Was ist Somatic Experiencing?

SE ist ein körperorientierter Ansatz zur Auflösung von posttraumatischen Stressreaktionen und zur Befreiung der darin gebundenen Lebensenergie.

Nicht selten kommen Patienten mit einer dauerhaft erhöhten inneren Aktivierung in meine Praxis. Dieser Aktivierung liegen dramatische Momente oder Zeiten ihres Lebens zugrunde, welche manchmal lang, manchmal kurz zurückliegen und bis zum gegenwärtigen Augenblick in deutlichem Maße nachwirken. Dies ist den Betroffenen manchmal sehr bewusst und manchmal weniger oder gar nicht. Einige kommen vielleicht zu mir, weil sie unter bestimmten Symptomen wie Migräne oder Muskelschmerzen oder Bauchkrämpfen leiden. Manche haben vielleicht schon Wochen, Monate oder Jahre der Psychotherapie hinter sich. Oft wird in den Sitzungen bei mir deutlich, wie groß der Anteil an Lebenskraft ist, der im Alltag darauf verwendet wird, diese Aktivierung im Zaum zu halten, wieviel Lebensqualität dadurch auf der Strecke bleibt, und wieviel (z.T. unbewusste) Angst vor einem vollständigen Wiedererwachen der gespeicherten Erfahrungen das Leben dieser Menschen bestimmt. Das kann sich auf ganz unterschiedliche Arten äußern, die sich irgendwo auf einer Skala zwischen zwei Polen bewegen: Hektik und Unruhe, einem Gefühl "wie unter Strom" oder "wie auf der Flucht" auf der einen und Weggetretensein, ein Gefühl "wie in Watte gepackt", "wie betäubt" oder gar "wie tot" auf der anderen Seite.

Der Parasympatikus als auch der Sympatikus können in ihrer Tätigkeit beeinträchtigt sein. Im erstgenannten Fall kann das z.B. zu Symptomen wie Depressionen, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Niedergedrücktheit, Erschöpfung, Verlust an sozialen Kontakten, Autoimmunerkrankungen führen, im zweitgenannten zu Ängsten, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Wutanfällen, zerstörerischen Beziehungskonflikten u.a.

Beide Tendenzen können auch im Wechsel auftreten.

Sowohl Shiatsu als auch die Homöopathie, die ich beide schon sehr lange praktiziere, können in diesen häufigen Fällen (allein oder kombiniert) eine immense Unterstützung darstellen.

Dennoch wuchs im Laufe der Jahre die empfundene Notwendigkeit und der Wunsch in mir, mein Angebot um besonderes Wissen und besondere Werkzeuge zu erweitern, um speziell hochgestressten und traumatisierten Menschen noch gezielter und grundlegender helfen zu können.

Ein wesentlicher Teil dieses Wissens und dieser Werkzeuge ist mir im Herbst 2010 erstmalig mit der Methode "Somatic Experiencing®" begegnet. Von September 2011 bis April 2014 habe ich mich in dieser Methode ausbilden lassen, und erlebe seither zunehmend im Praxisalltag, wie das dort Erlernte sich heilsam unterfütternd und ergänzend unter all das legt, was ich schon seit Jahren therapeutisch anbiete.

Möge Ihnen dies zugute kommen!

Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Erlebnisse hat dieses seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden. – Peter Levine

Somatic Experiencing® wurde in den 1970er Jahren von Peter Levine für die Arbeit mit traumatisierten Menschen entwickelt.

Zugrunde liegend sind die ab damals neuesten Erkenntnisse der Neurophysiologie. Wesentlich ist die Beobachtung, dass Tieren in freier Wildbahn innere Mechanismen zur Verfügung stehen, die den hohen nervlichen Erregungspegel, der mit Verteidigung, Flucht oder rettender Erstarrung (im Englischen "fight, flight or freeze") einhergeht, anschließend wieder neutralisieren.

Der Mensch verfügt über Regulationsmechanismen, die mit denen von Tieren praktisch identisch sind.

Die Reaktionen von Menschen auf eine als bedrohlich empfundene Situation sind, wie bei allen Säugetieren, in erster Linie instinktiv und biologisch und erst in zweiter Linie psychisch und dem Verstand zugänglich: Wenn wir uns bedroht fühlen, stellen wir all unsere Energie körperlich für Kampf oder Flucht bereit. Nach erfolgter Kampf - oder Fluchtreaktion (was sich z.B. in einem spontan-abwehrenden Heben der Hände, einem instinktiven Zusammenzucken, einem Hochziehen der Schultern zum Schutz der Halsschlagadern und/oder einem Schützen des Kopfes mit den Armen äußern kann - oder in einem Impuls von Wegschieben oder Aufstehen- und Weggehenwollen) findet der Organismus auf natürliche Weise wieder in sein Gleichgewicht. Ist ein Ereignis jedoch so überwältigend, dass wir nicht kämpfen oder fliehen können, werden diese Reflexe zwar begonnen, kommen jedoch nicht zur Ausführung. Als letzte Strategie bleibt es uns nur übrig, uns zu versteifen, zu erstarren: Der natürliche Totstell-Reflex. Hält diese Erstarrung zu lange an, kann sich die eingekapselte/eingefrorene Energie nicht entladen. Die hohe Aktivierung im Nervensystem bleibt bestehen. In der Folge, oft erst Jahre oder Jahrzehnte später, können sich Symptome bilden, die drastisch und auch chronisch werden können.

Außerdem werden die instinktiven Mechanismen oft neo-kortikal gehemmt: Der Chef schreit z.B. seine/n Untergebene/n an, und diese/r reißt sich zusammen. Durch solcherart Hemmung kann, wenn sie zur Regel wird, ebenso wie durch Überwältigung eine Vielzahl von Symptomen (wie z.B. Schmerzen, Versteifungs-Muster, Zusammenbruch, Verlust von Grenzen, Angst und Verwirrung) entstehen.

Biologisch gesehen organisiert sich ein Trauma um die durch Angst (Enge) gesteigerte Erstarrungsreaktion, die allen Tieren, vom Insekt bis zum Menschen, eigen ist.
Der Schlüssel zur Auflösung eines Traumas besteht darin, die Angst von der lähmenden Immobilität zu trennen und damit Zugang zu den intensiven Energien, die im Zustand der Immobilität gebunden sind, zu bekommen, sie freizusetzen und schließlich zu transformieren. – Peter Levine

Somatic Experiencing® beschäftigt sich nicht mit verdrängten Gefühlen, Bedürfnissen, emotionalen Konflikten und Einsicht in psychologische Zusammenhänge, sondern mit der Lenkung der Aufmerksamkeit des Patienten auf die Wahrnehmung seines Körpers und der dort angesiedelten Empfindungen.

SE ist keine Psychotherapie, sondern "pädagogische Arbeit am Nervensystem.
– Heike Gattnar, SE-Ausbildungsleiterin am Osterberg-Institut

Was wird in der körperorientierten Trauma-Therapie unter Trauma verstanden?

Wenn ich im hier über eine Methode schreibe, die für die Arbeit mit traumatisierten Menschen konzipiert wurde, so bedeutet das nicht, dass die Techniken, die sie bereitstellt, nur für Patienten mit sehr schwerwiegenden traumabedingten Folgestörungen geeignet sind.

Traumatische Ereignisse tragen sich in unterschiedlicher Schwere und Häufigkeit im Leben von nahezu allen Menschen zu, angefangen bei Komplikationen im Mutterleib oder während der Geburt, über Beziehungsdefizite im Kindesalter, Verlust eines nahestehenden Menschen, chronische psychische Überforderung, medizinische Eingriffe, bis hin zu Unfällen, lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankungen, Gewaltakten und Katastrophen unterschiedlichster Art.

Das so genannte Monotrauma, das einzelne traumatische Ereignis, ist eher die Ausnahme. Traumatische Ereignisse setzen sich im Unterbewusstsein zu Traumasystemen zusammen, deren Verknüpfungen sich durch die empfundene Ähnlichkeit von einzelnen Aspekten der traumatischen Erfahrungen ergeben.

Auch wenn die Energien eines Menschen nur vorübergehend krisenhaft gebunden sind und ihm nicht zur Verfügung stehen, kann der Ansatz von Somatic Experiencing sehr hilfreich sein.

Trauma wird in der körperorientierten Traumatherapie nicht als Ereignis, sondern als Überwältigung des Nervensystems (wodurch und in welchem Ausmaß auch immer) gesehen.

Da die während eines traumatisierenden Ereignisses aktivierten Reaktionen wesentlich vom Stammhirn gesteuert werden, sind sie, wie oben beschrieben, durch Willensentscheidungen und Verstand letztlich nicht beeinflussbar:

Traumatisierung heißt im SE: Etwas bleibt nach einem überwältigenden Ereignis im Nervensystem bestehen und löst sich nicht wieder auf. Alles, was danach an neuen überwältigenden Erfahrungen dazu kommt, schichtet sich auf das bisherige Trauma, und es wird für das Empfinden des Betroffenen immer enger.

Der Grad an Resilienz ist nicht bei jedem Menschen gleich. Traumatisierung ist nicht gleich Traumatisierung. Was den einen zutiefst und anhaltend erschüttet, löst bei einem anderen vielleicht einen relativ schnell überwindbaren Schrecken oder eine gut integrierbare Trauer aus.

Es macht darüberhinaus einen großen Unterschied, ob jemand eine frühe (Schock- oder Bindungs-)Traumatisierung erfahren hat, und dann obendrein noch irgendwann einen Autounfall hat oder eine Trennung erlebt, oder ob ein Autounfall/eine Trennung die erste Traumatisierung im Leben eines Menschen auslöst.

Wie auch beim Shiatsu und in der klassischen Homöopathie wird im SE davon ausgegangen, dass das System eines Menschen andauernd Versuche unternimmt, sich selbst zu heilen:

Zum Beispiel legt ein Patient, während er von seinen Ängsten erzählt, ohne es zu merken, seine Hand auf die Stelle, wo es ihm eng in der Brust wird. Wenn es gelingt, seine bewusste Aufmerksamkeit dorthin zu richten, kann er spüren, dass die Wärme der Hand ihm Erleichterung verschafft. Möglicherweise kommt ihm das Bild von einem Schutzschirm oder einer sicheren Höhle oder irgendetwas anderem, das er als stützend empfindet. Diese Art von Selbstheilungsversuch soll im SE gestärkt werden.

Eine typische Frage zur Selbstregulation ist z.B. "Gibt es irgendwo in Ihrem Körper eine Stelle, die sich weniger unangenehm anfühlt?"

Wir gehen davon aus, dass Veränderung nur durch Impulse bewirkt wird, die aus dem Inneren des Patienten kommen. Die erste Wahl ist daher immer das, was im Patienten von selbst geschieht. Traumatisierung geschieht auf der unwillkürlichen Ebene und kann nach dem Ansatz des SE nur dort gelöst werden. Das Nervensystem soll eingeladen werden, wieder auf gesunde Weise hin und herzuschwingen zwischen Aktivierung und Deaktivierung - dem Fluss, der im Zustand der Traumatisierung unterbrochen ist.

Wesentliche Bausteine im Heilungsprozess sind: Erdung, Zentrierung, Ressourcenfindung und -bildung und das Nachspüren ("Tracking") der Empfindungen im Körper, der Impulse und Bewegungen, der Gefühle, Verhaltensweisen, Gedanken und Bilder. Zunächst werden mit dem Patienten/der Patientin jene Ressourcen gestärkt und entwickelt, die während der ursprünglichen Situation zu schwach waren oder fehlten.

Auf dieser gekräftigten Grundlage erfolgt dann die behutsame Annäherung an das traumatische Ereignis. Im "Pendeln" zwischen den Ressourcen und Elementen der überwältigenden Erfahrung soll allmählich die "festgefrorene" Überlebensenergie zum "Auftauen" gebracht werden.

An dieser Stelle finde ich es wichtig, anzumerken:
SE ist keine kathartische Methode.

Es ist durchaus möglich, ohne Inhalte und Erinnerungen zu arbeiten, wenn das Ereignis emotional zu belastend für den Patienten erscheint. Eine mögliche Re-Traumatisierung bei der Aufarbeitung wird genau dadurch vermieden, dass die „eingefrorene“ Energie in kleinstmöglichen Portionen „aufgetaut“ wird und in ebenso kleinen Portionen zur Entladung kommt.

Es wird im SE grundsätzlich peripher damit begonnen, das zu finden, was (an Körperreaktion) noch möglich war, oder das, was zuende kommen wollte: Die Arbeit mit SE ist ein Zusammenweben des unterbrochenen Flusses ausgehend vom äußersten Rand des Geschehens. Wichtig ist, dass dies in kleinen Schritten geschieht, die für den Patienten integrierbar sein müssen. Die Patienten werden mit großer Achtsamkeit z.B. dahin geführt, wahrzunehmen, dass beides da ist: Die Anspannung und die Entspannung. Das Erschreckende und das Erleichternde.

Durch das Aufspüren und Wiederbeleben der ureigenen körperlichen Abwehrkräfte eines traumatisierten Menschen, kann das Gefühl von Gelähmtsein und Erstarrung sich in ein ein Gefühl von Lebendigkeit und Lebensfreude transformieren und neue Perspektiven können entstehen. Die unvollständige Überlebensreaktion kommt in z.T. winzigen Etappen zum natürlichen Abschluss und mit ihr findet die Trauma-Symptomatik ein Ende.

Die Schlange glitt davon,
doch ihre Augen
blieben im Gras.
– Kyoshi (1874-1959)